Identität und Erbe

Ringvorlesung am 28. Juni 2022 in Berlin

DAMJAN KOKALEVSKI (MÜNCHEN/SKOPJE): DAS ARCHIV LESEN: SKOPJE. ÜBERSCHRIEBENE GESCHICHTEN ALS KRITISCHER ZUGANG ZUR GEGENWART

Skopje ist in den letzten Jahren immer stärker zu einem Beispiel für die Legitimation und Stärkung populistischer und nationalistischer Machtstrukturen im Zuge städtischer Transformationen geworden. Im Jahr 2009 lancierte die ehemalige rechte Regierungspartei das Projekt eines ebenso umfangreichen wie gewaltsamen Umbaus des Stadtzentrums im pseudo-neoklassizistischen Stil unter dem Titel „Skopje 2014“. Das Projekt sollte das mazedonische Volk mit seinen mythischen Wurzeln, die auf Alexander den Großen zurückgehen verbinden und gleichzeitig versuchen, die Stadt „europäischer“ aussehen zu lassen. Seitdem sind in einem undurchsichtigen und korrupten Auftragsprozess zahlreiche neue Gebäude und Denkmäler entstanden, die etwa 680 Millionen Euro gekostet haben. Zugleich werden das architektonische Erbe und das technische Wissen des umfangreichen Wiederaufbauprojekts unter der Leitung der Vereinten Nationen nach dem verheerenden Erdbeben von 1963 verdeckt, aufgegeben oder sogar zerstört.
Dieser Vortrag konzentriert sich auf die archivalischen Überreste des Instituts für Stadtplanung und Architektur Skopje. Das Institut wurde vor mehreren Jahren geschlossen, sein Archiv aufgegeben und schließlich 2017 durch einen Brand zerstört. Ein Großteil der wertvollen Materialien des Wiederaufbaus von Skopje – Originalzeichnungen, Pläne, Modelle, Fotos, Aufzeichnungen und Protokolle – verschwanden bei dem Brand. Das Institut wurde mit Hilfe der Vereinten Nationen international etabliert und übernahm die Aufgabe, die neue Stadt nach dem Erdbeben zu planen. Es beauftragte mehr als 200 Expert:innen von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, die neue Stadt zu entwerfen. Unter anderem erstellten berühmte Architekten wie Constantinos Doxiadis, Kenzo Tange, Van der Broek und Bakema Pläne für die neue Stadt. Stark beeinflusst von der Erzählung des Kalten Krieges über den drohenden Atomkrieg wurde Skopje zu einem Markenzeichen der internationalen Zusammenarbeit und „Stadt der Solidarität“. Die Vereinten Nationen nutzten Architektur und Stadtplanung als wesentliche Instrumente zur Steuerung des Fortschritts und der internationalen Entwicklung und präsentierten das Beispiel von Skopje sowohl als Propagandamaschine als auch als Lösung für die Probleme einer „unruhigen Welt“. Seit den 1990er Jahren, nach der gewaltsamen Zerschlagung des sozialistischen Jugoslawiens, ist das Institut Opfer einer zügellosen Privatisierung und des Ausverkaufs staatlicher Einrichtungen geworden, von denen es sich nie erholt hat.

Mein Zugang das Archiv zu „lesen“, stellt diese Forschung in die Mitte dieses historischen Kontextes. Als eine performative Praxis behauptet sie, dass wir das Archiv von Skopje neu interpretieren und neu zusammensetzen müssen, indem wir verschiedene Arbeitsmethoden und Aktivitäten erkunden, einschließlich dem Ausstellen, Diskutieren, Lehren, Schreiben und Bauen. Wer würde sich für dieses Archiv interessieren und könnte es zu einer populären Quelle für Architekturwissen werden? Würde es ausschließlich in der akademischen Sphäre operieren oder einen breiteren kulturellen Kontext erreichen? Könnten wir, wenn wir den Status des Archivs in Skopje betrachten, globale Trends, wie den neuerlichen Aufstieg von Nationalismus und Populismus in ganz Europa, als Symptome erkennen, die in einem breiteren soziopolitischen Kontext auftreten und vor allem Wege finden, in diese Verbindung von Wissensproduktion und Macht zu intervenieren? Letztlich würde eine solche Anerkennung die Geschichte von Skopje weniger randständig zu positionieren und einen kritischen Zugang zu den aktuellen räumlichen und politischen Fragen zu ermöglichen

 

Damjan Kokalevski ist Postdoktorand am Architekturmuseum der TUM in München und leitet dort das Digitale Archiv. Seine Dissertation „Performing the Archive: Skopje. From the Ruins of the City of the Future“, die 2018 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich abgeschlossen wurde, untersucht die Vernachlässigung des architektonischen Wissens, das beim Wiederaufbau von Skopje nach dem Erdbeben von 1963 gewonnen wurde, und konzentriert sich auf die Beteiligung der Vereinten Nationen an diesem Prozess. Er beteiligte sich an der Ausstellung „Metabolism: The City of the Future“ im Mori Art Museum, Tokio (2012), kuratierte die Ausstellung „Performative Archive: Skopje, Discussing Urban Reconstruction“ mit gta Exhibitions Zürich (2014), und ko-kuratierte „Living With Water: Southern Fringe of Ljubljana“ im Museum für Architektur und Design, MAO Ljubljana (2018), und „Unfolding Cities. The Photobook as Archive“ in der AFF Galerie Berlin (2021). Er ist Autor des Buches „Skopje Walkie Talkie“ zusammen mit Susanne Hefti, das 2019 bei Spector Books erscheint, und redaktioneller Mitarbeiter bei „The Industrious City. Urban Industry in the Digital Age“, zusammen mit Hosoya Schaefer Architects Zürich, erschienen bei Lars Müller Publishers 2021, und Mitherausgeberin des „Future Architecture Book“, erschienen bei MAO Ljubljana 2021. Seine Arbeit als Architekt, Kurator, Schriftsteller und Aktivist führte ihn zur Mitbegründung von City Creative Network, einer Bürgerinitiative und einem urbanen Forschungszentrum in Skopje. Im Jahr 2015 realisierte er zusammen mit einer Gruppe von Studenten das Projekt „Nautilus Construct: Building an Open Stage for Skopje“ als Reaktion auf die jüngste nationalistische Umgestaltung des Stadtzentrums. Als Mitwirkender an zahlreichen architektonischen Projekten hat er zuletzt das „Komitet“, ein LGBTQI+-Gemeinschaftszentrum in Skopje, mitgestaltet und das städtebauliche Konzept für das „Prespa Forum for Political Dialogue“ am Ufer des Prespa-Sees nahe der nordmazedonisch-griechischen Grenze entworfen.  Sein aktueller Interessenschwerpunkt liegt auf dem Gebiet der kritischen Rekontextualisierung architektonischer und technologischer Geschichten. Er untersucht ihre digitale Zukunft und entwirft intersektionale Rahmungen für das Sichtbarmachen von Dingen.


Der Vortrag kann per Livestream verfolgt werden unter dem Link:

https://tu-berlin.zoom.us/j/69181277058?pwd=aVhXR0QzSGhnRTZTYlRNS3pVYXVvQT09

Weitere Vorträge in dieser Reihe:

5. Juli: Juliane Tomann (Erfurt) | 12. Juli: Elisa Satjukow (Weimar)

 

Aktuelle Informationen zu den Vorträgen und unseren Gästen finden Sie unter: https://www.identitaet-und-erbe.org/category/veranstaltungen/semestertermine/. Die Tonaufzeichnungen der Vorträge bieten wir in unserem Podcast zum Nachhören an.

NEUERSCHEINUNG:
„Die Berliner Gemeindesynagogen im Deutschen Kaiserreich. Integration und Selbstbehauptung“

Konstantin Wächter

 

Zahlreiche Synagogen prägten das schillernde Berlin der Gründerzeit. Sie machten eine der großen jüdischen Gemeinden Europas im Stadtbild sichtbar. Ihre überraschend vielfältige architektonische Gestaltung wirft dabei auch Fragen zu Erfahrung und zum Selbstverständnis ihrer Erbauer:innen innerhalb einer mehrheitlich konservativen nationalistisch gesinnten Gesellschaft auf. Das Buch zeichnet den Wandel der Bauaufgabe »Gemeindesynagoge« während der prosperierenden Phase des Kaiserreichs nach und rückt anhand einer akribischen zeichnerischen Rekonstruktion drei heute verlorene Hauptwerke der Synagogenbaukunst wieder in den Fokus. Die Synagogen Lützowstraße, Fasanenstraße und Levetzowstraße stehen dabei jeweils beispielhaft für einen Typus.

Wächter, Konstantin (2022) Die Berliner Gemeindesynagogen im Deutschen Kaiserreich. Integration und Selbstbehauptung. Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Beiheft 43; Hg. vom Landesdenkmalamt Berlin, Berlin: Gebrüder Mann Verlag, 06/2022

Das Graduiertenkolleg im yì magazìn

In seiner aktuellen Online-Ausgabe berichtet das das deutsch-chinesische „yì magazìn“  des Goethe-Instituts über die Forschungen zu städtischer Identität in unserem Graduiertenkolleg: Stadtidentität (Autor: Silvan Hagenbrock).

DFG-Graduiertenkolleg 2227 »Identität und Erbe«
 
Bauhaus-Universität Weimar
Fakultät Architektur und Urbanistik
 
Wissenschaftliche Koordination:
Dr. Wolfram Höhne
99423 Weimar, Marienstr. 9 (Raum 105)
Tel. +49 (0) 3643 - 583139
wolfram.hoehne@uni-weimar.de
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