Juliane Tomann (Regensburg): Performative Spielräume? Historisches Reenactment als Form des doing history

Geschichte, so scheint es, will gegenwärtig nicht mehr nur erzählt, visualisiert, aus- oder dargestellt werden; vielmehr beobachten wir einen umfassenden Trend zur Inszenierung, Eventisierung und Individualisierung des Umganges mit Vergangenheit in der Gegenwart. Die stetig wachsende Popularität historischer Reenactments macht diese Tendenz besonders deutlich. Als global vernetzte Subkultur haben sich Reenactments zu einem elementaren Bestandteil der Populär- und Geschichtskultur entwickelt. Großveranstaltungen wie die Schlacht von Gettysburg in den USA oder Tannenberg in Polen ziehen tausende Reenactor*innen und Besucher*innen an und werden intensiv medial begleitet.

In ihrem Selbstverständnis sind Reenactments das Gegenteil zum passiven Konsum von Geschichtsbildern. Die Körper der Reenactor*innen fungieren im sinnlich-emotionalen Nachspielen als Werkzeug für das intensive Einfühlen in die Vergangenheit. Die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit und Greifbarkeit von Vergangenem kulminiert im Begehren eines authentischen Erlebens – sowohl vergangener Ereignisse als auch des eigenen Selbst.
Was im Rollenspiel der Reenactor*innen mit der imaginierten Vergangenheit sowie im Zusammenspiel mit Zuschauer*innen passiert, ist so komplex wie ambivalent. Der Vortrag stellt Reenactments als performative Praktiken der Geschichtskultur vor und rückt Fragen nach der Inszenierung, Aufführung und Verkörperung von Vergangenheit ins Zentrum. Diskutiert wird, wie historisches Wissen in der Verkörperung und dem „Machen“ von Geschichte entsteht und welche Spielräume Reenactments für individuelle Aneignungsprozesse von Vergangenheit bereithalten.

Juliane Tomann ist Junior-Professorin für Public History und wissenschaftliche Leiterin des Zentrums Erinnerungskultur an der Universität Regensburg. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Imre Kertész Kolleg an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, wo sie seit 2017 den Arbeitsbereich „History in the Public Sphere“ leitete. Sie forscht zu performativen Praktiken in der Geschichtskultur in Polen, Deutschland und den USA (doing history), zu Gender in der Public History sowie zu postindustriellen Räumen und Landschaften. Zuletzt erschienen Historisches Reenactment. Disziplinäre Perspektiven auf ein dynamisches Forschungsfeld, DeGruyter, 2021 (zusammen mit Sabine Stach) und Transcending the Nostalgic. Landscapes of Postindustrial Europe beyond Representation, Berghahn books, 2021 (co-edited with George S. Jaramillo)