RINGVORLESUNGSREIHE „IDENTITÄT UND ERBE“

Dienstag, 13.Juli 2021 | 18.30 Uhr
Arnold Bartetzky (Leipzig): Erben ohne Erben. Baudenkmäler nach Zwangsmigrationen zwischen Zerstörung, Verdrängung und Aneignung

Zum Erbe kann etwas nur werden, wenn es jemanden gibt, der sich als Erbe begreift. Kulturerbe ist wegen seines überindividuellen Charakters auf Erbegemeinschaften angewiesen. Dabei kann es sich um örtliche Initiativen, um staatliche Institutionen oder um internationale Organisationen handeln. Oft werden auch konkurrierende Erbansprüche erhoben. Wenn es aber keine aktiven Erben gibt, werden Bauten oder Kunstwerke zu bloßen Relikten der Vergangenheit, für deren Erhalt sich niemand zuständig fühlt. Dies ist im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte besonders in der östlichen Hälfte Europas infolge der vielen Zwangsmigrationen und Grenzverschiebungen immer wieder eingetreten.
Die Vorlesung richtet den Blick auf die Entwicklungslinien und die Vielfalt von Haltungen gegenüber zunächst unwillkommenen Hinterlassenschaften der Geschichte – von der Zerstörung über die Verdrängung und Marginalisierung, pragmatische Umnutzung und Umgestaltung, politische Umdeutung und ideologische Aneignung bis zum Schutz im Namen universaler Werte. Dabei zeigt sich, dass das, was einst Erbe gewesen ist und anschließend lange Zeit auf Ablehnung stößt oder dem Vergessen anheimfällt, nicht für immer ohne Erben bleiben muss. Früher oder später, manchmal erst nach vielen Generationen, treten Menschen auf den Plan, die aus welchen Motiven, mit welchen Mitteln und mit welchen Ergebnissen auch immer ein zunächst missachtetes, verdrängtes oder auch planmäßig vernichtetes Erbe in Erinnerung rufen, sich für dessen Aneignung einsetzen und damit zu Erbgemeinschaften werden.

Arnold Bartetzky ist Kunsthistoriker und Architekturkritiker. Er arbeitet als Abteilungsleiter am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig und lehrt als Honorarprofessor an der Universität Leipzig. In seiner publizistischen Tätigkeit, u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, beschäftigt er sich vorwiegend mit Architektur, Stadtentwicklung und Denkmalpflege. Er wirkt in verschiedenen Fachgremien auf dem Gebiet der Baukultur mit. Zu seinen Arbeitsgebieten in der Forschung gehören Architektur und Stadtplanung, visuelle Geschichtskultur und soziale Utopien von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Jüngste Buchpublikationen: Arnold Bartetzky: Die gerettete Stadt. Architektur und Stadtentwicklung in Leipzig seit 1989. Erfolge, Risiken, Verluste. Leipzig 2015; Geschichte bauen. Architektonische Rekonstruktion und Nationenbildung vom 19. Jahrhundert bis heute. Hg. von Arnold Bartetzky. Köln – Weimar – Wien 2017; Das verschwundene Leipzig. Das Prinzip Abriss und Neubau in drei Jahrhunderten Stadtentwicklung. Leipzig 2020 (zusammen mit Anna Reindl). 

Ausführliche Informationen unter:
https://www.identitaet-und-erbe.org/category/veranstaltungen/semestertermine/

DIE KOLLEGIAT*INNEN STELLEN SICH VOR

Seit dem vergangenen Jahr stellen wir in diesem Format die Doktorand*innen des Kollegs vor. Diesmal gibt die Kollegiatin Mariam Gegidze einen persönlichen Einblick in ihre Arbeit. Seit Juni 2021 promoviert sie an der Hochschule Anhalt (Dessau), die als neuer Partner zum Verbund unseres Kollegs hinzu gekommen ist.

MARIAM GEGIDZE

 

WIE IST DAS THEMA DEINER DISSERTATIONSSCHRIFT ENTSTANDEN?

Nach meinem Architekturstudium in Tbilisi (Georgien) zog ich nach Berlin und studierte dort Kulturwissenschaft mit dem Nebenfach Kunst- und Bildgeschichte. In meiner Masterarbeit „Foyer. Ein architektonisches Medium“ habe ich den Wandel der räumlichen Gestaltung von Eingangsbereichen im Zusammenhang mit dem Etablieren gesellschaftlicher Normen untersucht und widme mich in meiner Dissertation nun dem Umgang mit dem architektonischen Erbe der Sowjetunion in Georgien. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit der Konstruktion der jüngsten Architekturgeschichte, die durch den tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse bedingt ist, eine zentrale Rolle. Die Frage nach der Vermittlung der ästhetischen und zeitgeschichtlichen Bedeutung der verschwindenden sowjetischen Architekturen ist für diese Arbeit genauso wichtig wie das Erfassen des verbliebenen Bestandes.

 

WAS NIMMST DU AN INSPIRATION AUS DEM KOLLEG-THEMA „IDENTITÄT UND ERBE“ MIT? WELCHE INTERDISZIPLINÄREN FORSCHUNGSANSÄTZE BEEINFLUSSEN DICH?

Die beiden Begriffe Identität und Erbe spielen für die geplante Dissertation eine wichtige Rolle. In meiner Arbeit untersuche ich die Transformationsprozesse in Georgien, die ich auch direkt miterlebt habe. Nach dem Zerfall der Sowjetunion suchte die ehemalige Georgische SSR nach einer neuen kulturellen und politischen Identität, die auch in der bestehenden Bausubstanz inszeniert werden sollte. Seitdem werden sowjetische Bauwerke und Monumente radikal verändert. Sie werden umgebaut, entfremdet oder gar abgerissen. Für die Untersuchung der sowjetischen Architektur in Georgien hat das Erfassen und Vermitteln der Verluste deshalb einen hohen Stellenwert und ist mit dem Bewahren der materiellen Zeugnisse selbst vergleichbar. Die Erforschung von Erbe-Verlusten zählt zu den Schwerpunkten des Kollegs. Deshalb freue ich mich sehr, innerhalb des interdisziplinär angelegten Kollegs zu forschen und wertvolle Impulse für meine Arbeit zu erhalten.

 

WELCHE AKTUELLEN DEBATTEN SPIEGELN SICH IN DEINEM THEMA WIDER?

Die Dokumentation, Archivierung und Vermittlung von Architekturen sind mit der Digitalisierung stärker in das Interesse der architekturtheoretischen Forschungen geraten. Nach der Pandemie ist noch deutlicher geworden, wie wichtig es ist, die Sammlungen baulicher Zeugnisse zugänglich zu machen. Digitalisierung und Gemeinfreiheit sind dafür eine Chance und zugleich eine große Herausforderung. ln der Dissertation werden neue Vermittlungs- und Sammlungsmethoden für Architekturdokumente konzipiert und dabei ihre Wirksamkeit bei der Initiierung kritischer Diskurse untersucht. Welche Rolle spielt die Digitalisierung einerseits für die Forschung und andererseits für die Präsenz und Wertschätzung bestimmter Architekturen? Wie sammelt und recherchiert man digital? Das sind die zentralen Fragen für die methodische Rahmung meiner Dissertation.

 

WIE LASSEN SICH DEINE ERFAHRUNGEN AUS FRÜHEREN PROJEKTEN UND TÄTIGKEITEN IN DEIN PROJEKT EINBRINGEN? 

Schon lange beschäftigt mich die Frage, wie bestimmte Ereignisse, kulturelle Prägungen und politische Gesetzgebungen einerseits die gebaute Umwelt gestalten und andererseits den Architekturdiskurs prägen. In dem Artikel „Alles was nicht verboten ist, ist erlaubt“ (gemeinsam mit Nicole Opel und David Manjavidze, 2018) habe ich dargelegt, wie bestimmte Bauregelungen in Tiblisi eine besondere Art der Erweiterung der Wohnflächen und darüber hinaus die Verdichtung der Stadt hervorgebracht haben. 2020 habe ich die Website Tbilisi Architecture Archive (https://taa.net.ge/) mitbegründet, um sowjetische Architekturen in Georgien zu dokumentieren und bekannt zu machen. Die Website führt Dokumente aus privaten und staatlichen Sammlungen zusammen. Ausgewählte Projekte und einzelne Akteur*innen werden näher vorgestellt. Dieses Archiv bietet meinem Dissertationsprojekt eine wichtige Materialbasis.

DFG-Graduiertenkolleg 2227 »Identität und Erbe«

Sitz:
Bauhaus-Universität Weimar
Fakultät Architektur und Urbanistik
99423 Weimar, Geschwister-Scholl-Str. 8 (Raum 027)
Tel. +49 (0) 3643 - 583139
Email: wolfram.hoehne@uni-weimar.de
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