Lukas Rathjen (Zürich): Nachkriegsverschiebungen. Humanistische Rhetorik zwischen Erbe und Zensur

Das Schweigen, das die Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre bestimmt, ist zu einem Topos geworden, den die Geschichtswissenschaft allmählich in seiner Wahrheit infragestellt. Doch dass über Auschwitz geschwiegen wurde, ist nicht zu widerlegen, sodass die Forschungsfrage nur lauten kann, wie und worin sich dieses Schweigen spezifizieren lässt. Auschwitz bildete das erschreckendste ‚Geheimnis‘ der Nachkriegszeit, und doch reiht es sich als Verschwiegenes ein in ein viel komplexeres, ‚unliebsames‘ Erbe, mit dem sich die Bundesrepublik und seine Bürger:innen konfrontiert sahen. Überliefert wurde 1945 nicht nur eine schmerzhafte und bleibende Erinnerung, sondern auch eine weitgehend nazistische Bevölkerung, die den demokratischen Staat tragen sollte – einen Staat, dessen Erbe es auch war, nicht mehr Nation sein zu können, sondern Gesellschaft sein zu müssen; sowie ein Staat, dem aufgetragen wurde, in neuer Funktion (Garant wirtschaftlicher Freiheiten) ein neues Grenzgebiet (West-Deutschland) zu regieren. Während diese vererbten Tatbestände anzuerkennen waren, gab es eine Reihe von Wissensbeständen, die nach Weltkrieg und Holocaust zu akzeptieren nicht länger möglich erschien. Vieles, was an Ideen, Meinungen und Werten vor 1945 zirkulierte, wurde in der Nachkriegszeit unter dem Generalverdacht des Nazismus im Giftschrank verwahrt. So wurde eine gewisse ‚Leere‘ übergeben, auf die Rhetorik antwortete, wo Handlungszwang und Evidenzmangel aufeinandertrafen. Doch die geschickte Rede war nicht nur das Provisorium für diesen Korpus an Nicht-mehr-Wissbarem, sondern als eine Technik der Verschiebung auch die Strategie, die Auseinandersetzung mit dem ‚schwierigen Erbe‘ zu vermeiden. Diese „Verdrängung“ lässt sich präzisieren in der Operation der Verschiebung. Sie hält das Nicht-gut-nicht-Wissbare auf Distanz, indem sie über anderes spricht, als worüber zu sprechen gefordert war.
In meinem Vortrag werde ich am Beispiel der humanistischen Gesprächskultur der 1950er-Jahre untersuchen, wie es mittels einer spezifischen Rhetorik gelang, sowohl dem Verdacht der Zensur aus dem Weg zu gehen als auch die Auseinandersetzung mit der historischen Ausgangslage zu vermeiden. Informationskontrolle (und -transformation) ist Teil der Kommunikations- und Bildungsarbeit, die der Nachkriegshumanismus leistete. Humanistische Rhetorik vermittelt zwischen Erbe und Zensur.