Tuuli Lähdesmäki: Die Kulturerbe-Politik der EU – Europäisches Kulturerbe im Entstehen. (ENG)

In den letzten zwei Jahrzehnten hat das politische Interesse an der Entwicklung und Förderung einer gemeinsamen europäischen Geschichte und eines gemeinsamen kulturellen Erbes in Europa zugenommen. Die EU trägt wesentlich dazu bei, dieses Narrativ zu etablieren. Aspekte dieser Idee tauchen in mehreren EU-Beschlüssen, Agenden und Arbeitsplänen für Kultur auf und sind zu gemeinsamen Argumentationen geworden, die sich in den politischen Diskursen der EU wiederfinden. In den 2010er Jahren hat die EU mehrere Initiativen ins Leben gerufen, die darauf abzielen, eine „europäische Dimension“ oder „europäische Bedeutung“ des kulturellen Erbes zu fördern. Eine dieser Initiativen ist das Europäische Kulturerbe-Siegel. Das Interesse am kulturellen Erbe ist zugleich politisch motiviert. In den 2000er Jahren sah sich die EU mit verschiedenen politischen, sozialen und humanitären Herausforderungen konfrontiert (oder Krisen, wie sie in politischen und medialen Diskursen oft genannt wurden), die bei den europäischen Gesellschaften Spuren hinterließen. Diese Herausforderungen reichten von Euroskeptizismus und nationalistischer Politik bis hin zur vermehrten Ankunft von Geflüchteten in Europa und dem Gefühl der sozialen Ausgrenzung in den europäischen Gesellschaften. Die kürzlich gestarteten Initiativen und politischen Maßnahmen der EU in Bezug auf Kulturerbe können als Antworten der EU auf aktuelle Herausforderungen gedeutet werden, indem die Einheit Europas und das Gefühl einer Zugehörigkeit zur EU durch die Anerkennung und Identifikation eines gemeinsamen kulturellen Erbes gefördert wird. Kulturerbe ist für die EU allerdings nicht nur ein politisches Werkzeug. Vielmehr entwickelt es sich zu einem Politikbereich mit eigenen Prozessen, Strategien und Arbeitsstellen, der zunehmend durch die EU-Politik geregelt wird. Die politischen Strategien und Initiativen und die dabei angewendete politische Rhetorik über gemeinsames oder geteiltes Kulturerbe sind diskursive, narrative und performative Instanzen, mit denen europäisches Kulturerbe geformt wird. Der Vortrag gibt einen Überblick über die Kulturerbe bezogene EU-Politik, indem er sich auf drei miteinander verknüpfte Themen konzentriert: 1) Hauptziele und Aktivitäten in der EU-Politik zum Kulturerbe, 2) Das Europäische Kulturerbe-Siegel und die darin ausgedrückte europäische Dimension des Kulturerbes und 3) Politikgestaltung in der EU-Politik zum Kulturerbe.

Dr. Tuuli Lähdesmäki hat in Kunstgeschichte und Soziologie promoviert. Sie arbeitet als außerordentliche Professorin der Kunstgeschichte an der Universität Jyväskylä, Finnland. Schwerpunkt ihrer Forschung sind Kultur- und Kulturerbepolitik der EU, Meaning-Making als Prozess in Kunst und Kultur, kulturelles Gedächtnis, Identitäten und Identitätspolitik sowie Narrative in Bezug auf Europa. Lähdesmäki hat diese Themen in den Forschungsprojekten EUROHERIT, HERIDI, ELABCHROM und REBOOT untersucht, die von der Europäischen Kommission und der Akademie von Finnland gefördert wurden. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehört der von ihr mit herausgegebene Band Heritage Diplomacy. Discourses, Imaginaries and Practices of Heritage and Power (Routledge, 2024) und die gemeinsam verfassten Bücher Europe from Below. Notions of Europe and the European among Participants of EU Cultural Initiatives (Brill, 2021) sowie Creating and Governing Cultural Heritage in the European Union: The European Heritage Label (Routledge, 2020). ORCID: 0000-0002-5166-489X