Alia Mossallam: Wege des Erzählens. Die Geschichtsschreibung des Assuan-Staudamms (1960-1970) als eine Erzählung ineinander verwobener Geschichten. (ENG)

Der Assuan-Hochdamm ist ein Symbol und Monument der Revolution von 1952 in Ägypten. Er war ein Produkt der Verstaatlichung des Suezkanals; ein Projekt der Dritte-Welt-Bewegungen, das in Indien, Ghana, Syrien und blockfreien Staaten nachgeahmt wurde und in einem Kontext der Fortsetzung des Krieges gegen den Imperialismus von 1956 zu lesen ist. Die Geschichte des Staudammbaus wurde in Liedern und Radiosendungen, in Arbeiterheften und Fotozeitschriften, in Broschüren der nubischen Gemeinden und in Comics für Kindern immer wieder aufs Neue erzählt. Sie hat die Menschen, dazu aufgerufen, sich für den Staudammbau einzusetzen und die damit verbundenen Zukunftsversprechen entworfen.

In diesem Vortrag versuche ich die Geschichte des Staudamm zu erzählen, ohne dabei die Erzählung des Staudammbaus rekonstruieren, der eine Erzählung der Erzählungen darstellt; eine hegemoniale Ideologie, die alternativlos bleibt; ein Bauwerk, in dem das Wissen der indigenen Bevölkerung von der Gegenwart der hydroelektrischen Wissenschaften überflutet wird.
Stattdessen versuche ich, die Geschichte(n) des Staudamms im Lichte der politischen Interessen, Hoffnungen und Verluste der Arbeiter zu beschreiben, die ihr Leben für den Bau des Staudamms geopfert haben und berichte von den indigenen (nubischen) Gemeinschaften, die für den Bau des Staudamms verdrängt wurden. Was können uns die Dokumente der Populärkultur über das Brüche in den Überlieferungen von Wissen und der Erzählungen mitteilen? Wie können wir bei der Entwicklung akademischer Historiografien die Strukturen ihrer fließenden Erzählungen und Philosophien der Wissensproduktion berücksichtigen?
In der Geschichte des Assuan-Hochdammes treffen verschiedene historische Spuren aufeinander: die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt stoßen auf ein nationalistische Projekt der Moderne, die Möglichkeiten zu sozialen Veränderungen und die Katastrophe der Vertreibung. Die eine Geschichte kann nicht ohne die andere erzählt werden; stattdessen wird sie zu einer Geschichte innerhalb einer Geschichte innerhalb einer Geschichte.

Alia Mossallam ist Kulturhistorikerin, Pädagogin und Autorin. Sie interessiert sich für Lieder, die Geschichten erzählen und für Geschichten, die von den Auseinandersetzungen des einfachen Volkes erzählen, die hinter den bekannteren Ereignissen der Weltgeschichte verborgen bleiben. Für ihre Dissertation erforschte sie die Geschichte des nasseristischen Ägyptens anhand von Erfahrungen und Berichten aus dem Widerstand der Bevölkerungen in Port Said (1956) und Suez (1967-1974) sowie den Baus des Assuan-Hochdamms aus den Perspektiven seiner Erbauer und der nubischen Gemeinschaften, die dadurch vertrieben wurden. Als EUME-Stipendiatin 2017-21 der Alexander von Humboldt-Stiftung arbeitete sie an ihrem Buch über die damit verbundenen visuellen und musikalischen Archivierungspraktiken. Ihr aktuelles Projekt als Associate Fellow bei EUME (2021-24), „Tracing Emancipation Under Rubbles of War“, erforscht die physischen und politischen Reisen ägyptischer und nordafrikanischer Arbeiter:innen an den verschiedenen Fronten des Ersten Weltkriegs anhand von Liedern und Memoiren. Einige ihrer forschungsbasierten Artikel, Essays und Kurzgeschichten sind in The Journal of Water History, The History Workshop Journal, der LSE Middle East Paper Series, Ma’azif, Bidayat, Mada Masr, Jadaliyya und 60 Pages zu finden. Als experimentelle Form der Geschichtsarbeit gründete das ortsspezifische Public History-Projekt „Ihky ya Tarikh“. Sie lehrte an der American University in Kairo, der Freien Universität und der Humboldt-Universität in Berlin sowie am Cairo Institute for Liberal Arts.

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