Anatol Rykov (St. Petersburg): Zensur in der Geschichte der Kunstwissenschaften

Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass Zensur heute zu einer zentralen Kategorie der Kunstwissenschaft avanciert. Das Problem des Stils als unbewusstes, kollektives Wahrnehmen oder individuelle Ausdrucksweise wird reformuliert, wenn zunehmend nach Moden, Rivalitäten, Zensur und sozialer Erwünschtheit gefragt wird. Seit den Anfängen der wissenschaftlichen Kunsttheorie befanden sich pragmatische und idealistische Konzeptionen im Widerstreit um ein angemessenes Verständnis des Problems der Zensur. Die Wiener und die Sankt Petersburger Schule der Kunstkritik polemisierten in dieser Frage gegeneinander. Später griff Ernst Gombrich in den Jahren des Kalten Krieges die Argumente der russischen Gelehrten erneut auf. Die russischen Theoretiker der vorrevolutionären Zeit waren beeindruckt wie verängstigt von den populistischen Bewegungen ihrer Zeit, die schließlich Teil bolschewistischer Mythen wurden. Sie verglichen die damaligen Umwälzungen mit einer spätantiken Ideologie der „politischen Korrektheit“, die Ideale der Moralisierung, der Intoleranz und des Kollektivismus in verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einführte. Obwohl sich die Petersburger Wissenschaftler wie ihre Wiener Kollegen gleichermaßen mit den dramatischen Prozessen beim Übergang von der Hochkultur der klassischen Antike zur Barbarei des frühen Mittelalters beschäftigten, kann man sagen, dass die Ansätze von Nikodim Kondakov oder Michael Rostovtzeff weit weniger „romantisch“ oder „expressionistisch“ waren als die Vorstellungen von Max Dvorak oder gar Alois Riegl. Rostovtzeff wie auch Fedor Schmit interpretierten die Kultur des Römischen Reiches als eine komplexe Wechselbeziehung zwischen den Minderheitenkulturen, ihren proto-sozialistischen Ideologien und den dominanten Diskursen. Können die damaligen Ideologien als Analogie zu heutigen Vorstellungen von „politischer Korrektheit“ interpretiert werden oder ist diese Analogie vielmehr ein anachronistischer Irrtum?