Die sowjetische Vergangenheit als Teil der Identität moderner ukrainischer Städte (EN)

Die Geschichte der Sowjetzeit ist für Ukrainer*innen seit jeher ein komplexes und mit Emotionen aufgeladenes Thema – nicht zuletzt, weil sie ständig Gegenstand von Manipulationen und Spekulationen durch die Kreml-Propaganda gewesen ist. Seit der Annexion der Krim, dem Beginn der russischen Militärintervention im Jahr 2014 und vor allem nach der Kriegserklärung im Jahr 2022 hat sich diese Problematik weiter verschärft. In der russischen Propaganda wird die sowjetische Vergangenheit ausdrücklich als russisch bezeichnet. Dies führte dazu, dass die Sowjetunion nicht mehr als ukrainische Vergangenheit, sondern vor allem als russische Gegenwart wahrgenommen wird und zugleich Intoleranz und Hass gegenüber dem mit dieser Zeit in Verbindung stehenden Erbe zunehmen.

Aufgrund derartiger Manipulationen sind die Ukrainer*innen bestrebt, das kulturelle Erbe der komplexen kolonialen Vergangenheit zu beseitigen. Dennoch ist es Teil der Vergangenheit eines Landes, das selbst in den totalitären Jahrzehnten nicht nur seine Subjektivität, seine Traditionen, seine Kultur und seine Sprache bewahrt, sondern auch ein einzigartiges ukrainisch-sowjetisches Kulturerbe geschaffen hat. Leider ist dieses Erbe nun im Begriff zu verschwinden.

Die Sowjetzeit ist ein wesentlicher Bestandteil der Identität der modernen Ukraine. Über mehrere Generationen hinweg spielte sich das persönliche und kollektive Leben der Ukrainer*innen in öffentlichen Räumen der Sowjetunion ab. Doch wenn es heute z.B. um die Erhaltung von Kulturpalästen aus den 1960er und 1980er Jahren geht, wird an erster Stelle auf den sowjetischen Charakter als Ausdruck einer Ideologie verwiesen. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass dies für die Anwohner*innen in erster Linie Orte sind, an denen sich entscheidende Momente ihrer persönlichen Geschichte abgespielt haben – zum Beispiel wurde in den Kulturpalästen auch geheiratet. 

In meinem Beitrag möchte ich über zwei ukrainische Städte sprechen, die während der Sowjetzeit entstanden sind und somit eine rein sowjetische Gründungsgeschichte haben. Eine davon ist die Stadt Slawutytsch, die nach dem Unglück von Tschernobyl und kurz vor dem Ende der Sowjetunion erbaut wurde. Die andere ist die Stadt Sieverodonetsk, die bereits fünf Jahre nach dem Beginn der sowjetischen Herrschaft in der Ukraine gegründet wurde. 

Es handelt sich um völlig unterschiedliche Städte, in denen ganz verschiedene Erfahrungen mit der Akzeptanz bzw. der Ablehnung ihrer Identität gemacht wurden. Ich möchte zudem auf einige zeitgenössische Kunstpraktiken eingehen, die zwischen 2015 und 2019 in diesen beiden Städten stattgefunden haben, und zeigen wie sie heute zum Verständnis der Stadtidentitäten beitragen können.