Natalie Reinsch (Hannover): „… der gnädige Schleier des Vergessens …“ Der Zensurstreit zwischen Horst Brandstätter und der Stadt Stuttgart im Jahr 1987 als Aushandlungsprozess um das mit der Person Hanns Martin Schleyer verschränkte Erbe des Linksterrorismus und des Nationalsozialismus

Anlässlich der Eröffnung einer Rauminstallation zu Napoleon Bonaparte und Georg Kerner im Jahr 1987 kritisierte der Stuttgarter Autor Horst Brandstätter (1950-2006) die Namensgebung für die Hanns-Martin-Schleyer-Halle: „Schwäbischen Jakobinern setzt man hierzulande kein Denkmal. Monumente entstehen neuerdings sogar eher als Ausdruck der Hysterie. (…) Da trägt dann beispielsweise die Stuttgarter Riesenhalle einen Namen, dem – bei aller Tragik – der gnädige Schleier des Vergessens angemessener wäre.“
Brandstätter spielte hier auf die NS-Vergangenheit des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer an. Der Leiter der Galerie der Stadt Stuttgart, Dr. Johann-Karl Schmidt, kürzte den Beitrag für den Katalog um die betreffende Passage, wogegen Brandstätter sich wehrte und an Oberbürgermeister Rommels „souveräne Liberalität“ appellierte. Rommel entschied, dass der Katalog ohne Brandstätters Beitrag veröffentlicht werde, woraufhin Brandstätter den Vorfall, verbunden mit dem Vorwurf der Zensur, öffentlich machte.
Im anschließenden Zensurstreit wurde in den Medien einerseits der Vorwurf der Zensur diskutiert, andererseits Passagen aus Brandstätters Rede erörtert. Politiker von den Grünen und der SPD sowie der Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller kritisierten das Vorgehen der Stadt als Zensur, während Rommel sich auf das Herausgeberrecht der Stadt berief. Journalist:innen machten das Erbe des Nationalsozialismus als kontroverses Thema aus, welches allerdings neben dem „Vorstoß gegen die Tabuisierung von Hanns Martin Schleyer nebensächlich“ erscheine.
Der Zensurvorwurf Brandstätters, eines während des „Deutschen Herbstes“ als Sympathisant ins Visier der Ermittlungsbehörden geratenen Autors, war juristisch nicht greifbar. Im Stuttgarter Zensurstreit zeigt sich die konflikthafte Verschränkung des Erbes des Linksterrorismus mit dem Erbe der NS-Vergangenheit anhand der Person Schleyer für die Erinnerungskultur in der Stadt Stuttgart.